Vorausschauend arbeiten

Eine Frau strickt auf dem Balkon in der SonneIch sitze in der Sommersonne auf dem Balkon und halte ein luftig-leichtes Strickprojekt in den Händen. Vonwegen! Ich schwitze in der Sonne und halte in den Händen: einen schweren, warmen, halbfertigen Winterpullover! Es ist genau wie beim Romanschreiben: Ich muss vorausschauend arbeiten.

Wäre ich in der Lage, innerhalb eines Tages einen Pulli fertigzustellen, bräuchte ich keinen Vorlauf. Wäre beim Roman keine Programmplanung, kein Lektorat, Korrektorat, kein Cover-Entwurf,  Druck, Marketing und Vertrieb nötig – tja, dann könnte ich jetzt eine Geschichte schreiben, die im Herbst 2023 spielt und sie dann im kommenden Monat veröffentlichen.

Doch das ist illusorisch, und deshalb muss jede Autorin vorausschauend arbeiten. Was bedeutet das? Und kann es ein Problem werden?

Ein halb gestrickter Pullover liegt auf einem TischBeim Schreiben tauche ich sowieso in eine andere Welt ein. Ich versetze mich an einen anderen Ort, in andere Gesellschaft – und da kann ich auch noch eine andere Jahreszeit herbeiphantasieren, darauf kommt es nicht an. Und das tue ich auch. Denn ich möchte natürlich nicht, dass die Geschichte wie von gestern wirkt, kaum dass sie erschienen ist. Also lasse ich die Handlung nicht jetzt spielen, zum Zeitpunkt des Schreibens, sondern ungefähr dann, wenn das Buch auf den Markt kommt.

Doch was ist, wenn sich die Randbedingungen bis dahin verändert haben? In meinem aktuellen Skript spielt der Eurovision Song Contest eine (kleine) Rolle. Was, wenn die Verantwortlichen ihn plötzlich abschafften? Wenn sich keine Geldgeber mehr fänden? Oder wenn Deutschland sich aus irgendeinem Grund nicht mehr beteiligen würde?

Dass ein Ereignis dieser Größenordnung spontan ausfällt, ist nicht sehr wahrscheinlich. Dass es ausgesetzt wird, schon – man denke nur an die Lockdowns! Doch je mehr regionale Aspekte, Veranstaltungen und reale Orte man ins Geschehen einbindet, desto größer ist das Risiko der Veränderung. Blöd, wenn ein Theater, das ein wichtiger Schauplatz im Krimi ist, schließen würde!

Nicht gefeit ist man gegen Unternehmenszusammenschlüsse und Umbenennungen. Wer wird in fünf Jahren noch verstehen, was „twittern“ ist?

Ein Strickstück liegt ausgebreitet auf den KnienDennoch beunruhigen mich diese Unwägbarkeiten beim Romanschreiben nicht wirklich. Schließlich betreffen sie alle anderen Autor:innen, alle anderen Verlage ebenso. Wir alle können nur guten Wissens und Gewissens vorausschauend arbeiten – mehr geht nicht.

Beim Handarbeiten tue ich mich mit dem Vorlauf schwerer. Denn die besten Ideen für Winterpullis kommen mir zur kalten Jahreszeit, und die schönsten leichten Garne erhält man im Frühjahr.

Was also tun? Edda Langner aus dem Krimi Mörderische Masche hätte sicher den Tipp parat: Schneller stricken, mien Deern, einfach schneller stricken!

 

Über Karla Letterman

Krimiautorin und Kolumnistin aus Lübeck. Stammt aus dem Harz und hat in Göttingen und Hamburg gelebt.
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