Dieser Text handelt von zwei Themen, dem Besuch eines Friedhofs bei Regen und dem Gedenken an eine berühmte Frau. Ich habe versucht, zwei Beiträge zu verfassen, doch ich schaffte es nicht, das eine vom anderen zu trennen, was vielleicht daran liegt, wie ich zu dem Besuch kam.
Vorweg sei erwähnt: Seit ich in Lübeck lebe – seit sechs Jahren – habe ich mir immer wieder vage vorgenommen, den Burgtorfriedhof zu besuchen. Ich hatte von Führungen und Gedenkveranstaltungen gelesen, die dort stattfinden, und hatte daraus den Eindruck gewonnen, es müsse ein ehrwürdiger, vielleicht sogar ein schöner Friedhof sein.
Warum also war ich bisher nie dort gewesen? Ganz einfach: Ich hatte Angst, dass es ein banaler, nicht wirklich sehenswerter Ort sein könnte. Das hätte mich sehr enttäuscht, denn meine Erwartungen waren hoch. Ich wusste, ich würde diese Begräbnisstätte mit anderen vergleichen, die mich beeindruckt haben, dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg etwa oder dem Dorotheenstädtischen in Berlin.
Und was trieb mich nun plötzlich auf den Burgtorfriedhof?
Ich hörte ein Hörbuch, den wunderbaren Roman ›Junge Frau am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid‹ von Alena Schröder. Der Regen prasselte an mein Fenster, und in der Geschichte streifte ein junger Mann im Februar über ›seinen‹ Friedhof und genoss die Stimmung und das Alleinsein. Da wusste ich: Das ist mein Signal!
Was für eine Ausstrahlung!
Im Regen hat die letzte Ruhestätte vieler Menschen eine ganz besondere Ausstrahlung. Ich finde Friedhöfe dann nicht deprimierend, sondern beruhigend, besänftigend, im Einklang mit der allgemeinen Stimmung. Die an einem Sommerwettertag vorherrschende hektische Betriebsamkeit ruht endlich einmal.
Zeit, sich zu besinnen. Gelegenheit, Dinge zu tun, die inmitten all der Alltagsbesorgungen nie Priorität haben und doch wichtig sind.
Ich habe die Gräber von Helene Weigel und Bert Brecht, von Wolfgang Borchert, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre besucht und bin auf dem Père Lachaise Japanerinnen gefolgt, um Jim Morrisons Grab zu finden. Diese Ehrerbietung wollte ich auch Ida Boy-Ed zuteil werden lassen, denn ich empfinde große Hochachtung für das Wirken dieser mutigen Frau.
Heute wird sie fast immer zunächst (oder sogar ausschließlich) für die Förderung junger Lübecker Autoren – allen voran Thomas Manns – gewürdigt. Dabei hat sie selbst 70 Romane und Erzählbände veröffentlicht, und zwar unter widrigen Umständen. Während in ihrem Elternhaus politisches und geistiges Interesse selbstverständlich waren und sie vom Schriftsteller-Vater und Zeitungsgründer die Liebe zum Schreiben übernahm, brachte man ihren Interessen in der Kaufmannsfamilie Boy, in die sie jung einheiratete, keinerlei Verständnis entgegen.
Schließlich doch Erfolg und Anerkennung
1878 (!) floh sie allein mit ihrem ältesten Sohn nach Berlin, wo sie sich als Journalistin durchschlug. Ihr Ehemann willigte nicht in die Scheidung ein, ermöglichte ihr aber in Lübeck das Schreiben, und so kehrte sie zu ihm und ihren anderen drei Kindern zurück.
Schließlich brachten ihre Geschichten finanziellen Erfolg und Anerkennung ein. Aus der jungen Frau, die mit ihrem Eigensinn und der Trennung vom Ehemann das konservative hanseatische Bürgertum brüskiert hatte, war eine anerkannte Schriftstellerin geworden. Bekannt war auch ihr Salon, dem nachgesagt wird, er habe das kulturelle Leben Lübecks nachhaltig beeinflusst. Als sie 1928 starb, flaggte Lübeck halbmast und richtete eine große Trauerfeier in der Marienkirche aus.
Ida Boy-Ed ist allein begraben. Ich habe ihr Grab beim Spazieren über den Burgtorfriedhof gefunden, ohne vorher zu wissen, in welchem Bereich ich suchen müsste. Sie hat ein würdiges Grabmal erhalten, und mir gefällt, dass nur ihr Name eingraviert ist, keine weiteren Erklärungen – so als sei es selbstverständlich, dass man all das wisse.
Beeindruckender Friedhof
Überhaupt hat mich der Besuch des Friedhofs sehr beeindruckt. Er hat eine ehrwürdige Ausstrahlung, ohne steif zu sein.
Es gibt viele üppige Grabsteine und Familiengrabstätten, einige mit Figuren und Ornamenten geschmückt, aber auch kleinere, schlichtere Gräber.
Der alte Baumbestand und die großzügige Anlage verleihen dem Friedhof Erhabenheit und Würde. Er strahlt die Beständigkeit aus, die einen Spaziergang, gerade bei Regen, so beruhigend machen.
Der Burgtorfriedhof kann sich mit anderen, bekannteren Ruhestätten vergleichen. Meine Befürchtung, er könne mich enttäuschen, war völlig grundlos!
Fotos: Karla Letterman