Systemfrage

Schwimmer im Pool - by David Mark from PixabayDa möchte man sich arglos im Schwimmbad austoben – und schon stellt sich die Systemfrage! Und das kommt so. Lübeck, Sonntagmorgen, am Eingang zum Zentralbad. Ich werde zurückgewiesen. Zunächst müssten die aktuellen Badegäste gezählt werden, dann sehe man weiter; derweilen möge ich doch warten.

Ich hatte online ein Ticket kaufen wollen – nicht im Angebot. Ich hatte mich bemüht, einen Schwimmplatz zu reservieren – ging nicht.

Dann hätte ich mich sogar damit zufrieden gegeben, via Internet wenigstens eine Auskunft über die Corona-Zugangsregeln zu erhalten. Doch nichts außer der AHA-Formel (Abstand – Hygiene – Alltagsmaske) war zu erfahren. Schließlich radelte ich einfach los. Für mich war das Risiko überschaubar, denn meine Fahrradfahrt zum Schwimmbad in der Altstadt dauert nur zehn Minuten. Doch nach mir trat eine junge Familie mit zwei Kindern ein und wurde ebenfalls zum Warten aufgefordert. Die vier taten mir Leid: Was für ein Aufwand für ein ungewisses Schicksal!

Ist das nicht vermeidbar? In einer Zeit, in der halb Deutschland im Homeoffice arbeitet, sollte es doch einer 200.000-Einwohner-Stadt möglich sein, die Internet-Technologie für einfache Verwaltungsakte zu nutzen. Die Kassiererinnen sollten wenigstens einen Zähler zur Hand haben: klick und gut. So hätten sie die aktuelle Zahl der Badegäste jederzeit parat und müssten nicht im Pool nachzählen gehen.

Die Freifahrtschein-Fraktion

Karla Letterman stellt die Systemfrage

Frau Karla stellt die Systemfrage

Und was spricht dagegen, die Aufenthaltszeit zu beschränken? Eine Stunde für Einzelschwimmer*innen, zwei Stunden für Familien? Auch das hälfe bei der Planung der Besucherzahlen.

Doch das ist eher eine rhetorische Frage, denn ich höre schon die empörten Proteste der Verwöhnten: Vorschriften, o nein! Wir leben doch nicht in der Diktatur! Das ist das immergleiche Narrativ der Egoisten à la ›Freie Fahrt für freie Bürger‹ – ich nenne sie die Freifahrtschein-Fraktion.

›Keine Restriktionen‹ lautet die Wunschvorstellung aller Demokraten. Doch die Verwirklichung setzt voraus, dass sich alle an geschriebene und ungeschriebene Gesetze halten. Leider nimmt die Zahl der Rücksichtslosen in unserer Gesellschaft zu, und genau denen kommt es zugute, wenn nichts reglementiert wird. Dann dehnen sie nämlich ihre Aufenthaltszeit, um beim Beispiel Schwimmbad zu bleiben, gnadenlos aus.

Die vierköpfige Familie erhielt womöglich keinen Zutritt mehr in zumutbarer Zeit (ich weiß es allerdings nicht). Das könnte an denen gelegen haben, die unbekümmertes Planschen für ihr angestammtes Recht halten. Gleiches Recht für alle ist eben eine Systemfrage. Vor lauter Angst, Vorschriften zu erlassen, vermeidet unsere Gesellschaft Beschränkungen, die den Egoisten Grenzen setzen würden.

Begrenzte Ressourcen

Wenn begehrte Ressourcen begrenzt sind, muss man den Zugang regeln. Klingt logisch? Ist es auch! Doch im Alltag tun wir uns schwer damit. Selbst eine vermeintliche Banalität wie gleichberechtigter Zugang zum Schwimmbad wirkt wie eine Utopie – jedenfalls in Lübeck.

Dabei bräuchte die Stadt ihren Blick nicht in weite Ferne schweifen zu lassen, um nach einer Lösung zu suchen. In Eutin etwa kann die Badedauer zeitlich beschränkt werden. Das Sportbad Malente veröffentlicht seine Hygieneregeln im Internet. In Hamburg gewährleisten Online-Tickets einen Zugang zum Schwimmbad trotz Gästelimits. Auf all das kann man sich einstellen. Auf die spontanen Handlungen der Freifahrtschein-Fraktion jedoch nicht.


Fotos: David Mark from Pixabay; Karla Letterman

Über Karla Letterman

Krimiautorin und Kolumnistin aus Lübeck. Stammt aus dem Harz und hat in Göttingen und Hamburg gelebt.
Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.