Die denkwürdige Fahrt des ME 82126 am 2.6.2019

Ein Zug hält im Bahnhof Bienenbüttel

Bienenbüttel: schönster Ort der Welt!

Von Bienenbüttel wusste ich bisher nichts, außer dass Einheimische manchmal das Synonym Immensack verwenden. Huiuiui, haha. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass Bienenbüttel für mich und 500 andere einmal der schönste Ort der Welt sein könnte. Bis gestern. Bis zur denkwürdigen Reise im Metronom ME 82126 am 2.6.2019, heißem Sonntag nach einem Brückentag.

Hannover, 13.35 Uhr: Viele Menschen sitzen im Zug, die Gepäcknischen sind belegt, noch flitzen neue Fahrgäste die Treppe hoch, schnaufen, springen rein, klemmen sich in die Lücken. Der Metronom beginnt seine Fahrt mit dem Zielbahnhof Hamburg wie er soll um 13.40 Uhr.

Uelzen, 15 Uhr: Nach pünktlichen Abfahrten in Langenhagen, Isernhagen, Großburgwedel, Celle, Eschede (Gruseln beim Gedanken an das schwere Zugunglück 1998), Unterlüß und Suderburg erreicht der ME 82126 am 2.6.2019 den Hundertwasserbahnhof. Angesichts diverser verspäteter Fernzüge quellen die Bahnsteige über vor Menschen mit Kind, Hund, Unmut und Fahrrad.

Wer kann, drängt sich in den Metronom, die nächste Reisemöglichkeit nach Hamburg. Der Zug verlässt Uelzen leicht verspätet gegen 15.05 Uhr. Die Sonne brennt, die Klimaanlage läuft, der eine singt, der andere schimpft, eine Heimfahrt nach langem Wochenende.

Andere überholen

Bad Bevensen, deutlich nach 15.09 Uhr: Die sieben Waggons des ME 82126 schieben los, später als geplant, der Zug ist jetzt einer, der andere überholen lassen muss.

Botanik, 15.18 Uhr: Der Zug hält, wir hätten schon aus Bienenbüttel raus sein sollen, doch wir sind im hübschen, grünen Nirgendwo. Der Zugführer sagt durch, dass es gleich weiter geht. Geht es auch.

Eine Handvoll Minuten später: das gleiche Spiel. Der Zug bremst, hält, kein Bahnsteig links, keiner rechts, die Aussicht ist sommerlich und grün. Durchsage, kurzes Warten, Weiterfahrt.

Drei Minuten später (vielleicht vier): Der Zug verlangsamt, doch man hat kein Bremsen gespürt. Mich streift der Gedanke an ein Auto mit leerem Tank. Der Zugführer meldet sich, verlegen: „Unsere Lok streikt. Ich geh mal nachsehen.“ Der ME 82126 am 2.6.2019, hoffnungsvoll, noch.

Mitten im Nirgendwo, 15.25 Uhr: Fahrplanmäßig hätten wir gerade Lüneburg erreicht. Na, das geht doch gleich weiter, dann kriegen wir den Anschluss Richtung Kiel noch, da wäre ja sonst auch massig Zeit zum Umsteigen, soviel braucht doch kein Mensch.

Nirgendwo, 15.30 Uhr: Puh, echt warm hier. Oh, die Klimaanlage läuft nicht mehr. Ansage Zugbegleiterin: „Ich habe keine weiteren Neuigkeiten vom Lokführer. Bitte gedulden Sie sich etwas. Bitte versuchen Sie nicht, die Türen zu öffnen, wir haben viele kleine Kinder hier an Bord. Wir sind mitten auf der Strecke, Aussteigen wäre gefährlich.“

Im Nirgendwo

Es werden weitere anderthalb Stunden im Nirgendwo, im ME 82126 am 2.6.2019, bei sommerlichen Temperaturen und ohne Klimaanlage, aber mir wird nicht nur heiß, sondern auch warm ums Herz. Denn die Fahrgäste in Wagen 3 verhalten sich zum Großteil – ich kann es nicht anders sagen: cool! Zwar gibt es auch hier zwei, die glauben, Anspruch auf einen komplikationslosen Alltag zu haben. Doch die Mehrheit agiert weise: nimmt an, was nicht zu ändern ist.
Menschen kommen miteinander ins Gespräch, Junge beruhigen Alte, Mütter fächeln Kindern Luft zu, man tauscht Lesestoff aus, erzählt sich Anekdoten von anderen Reisen.
Die Zugbegleiterin, ratlos nach der Ansage des Lokführers, dass er Hilfe angefordert habe, die bestimmt bald, ganz bald, eintreffe, will etwas für die Kleinsten unter den Fahrgästen tun. Sie spielt eine Kindersendung ab, viel zu grell, viel zu laut, komplett nervtötend, doch die Leute in Wagen 3 haben verstanden, dass es ums Beschwichtigen geht, und lachen, singen mit und sind freundlich.
Ich – mit meinem Thriller vor der Nase – sehe die ersten hysterisch werden, klaustrophobisch, aggressiv. Doch das passiert nicht. Ein Mädchen im Grundschulalter geht durch die Reihen und verteilt selbst gebastelte Fächer – die Seiten einer Zeitschrift im Zweitnutzen.

Sarkastisches Lachen und kleine Wunder

Improvisierte Fächer in Wagen 3

Nach der gefühlt 20. Durchsage, dass jetzt gleich eine frische Lok zur Rettung aneilen werde – einige Türen zur Dammseite sind mittlerweile doch geöffnet, die Raucher sind im Steuerwagen versammelt, in den Durchgängen wurde Platz für Leute mit Schwächeanfällen geschaffen – wird es um 16.48 Uhr konkret.
Der Zugführer: „Die Lok steht noch in Bienenbüttel und bekommt jetzt Befehl aus Hannover weiterzufahren.“
Dass das Lachen sarkastisch klingt, kann ich keinem verdenken. Dass die Toilette noch benutzbar ist, ist ein kleines Wunder.

16.55 Uhr: Die Klimaanlage springt an.

17.01 Uhr: Die versprochene Lok dockt an. Die Zugbegleiterin, Heldin des heißen Sonntags, Heldin harter Arbeitsbedingungen, einzige Zugbegleiterin für 500 Reisende, ruft:  „Vielen Dank, dass Sie so tolle Fahrgäste sind!“

17.06 Uhr, dem Aufgeben nahe, noch tapfer: „Bitte sagen Sie den Leuten, dass sie einsteigen sollen! Wir fahren jetzt los.“

17.13 Uhr: Eine Tür ist blockiert.

17.15 Uhr: Interne Ansage: Die Türschleife schließt jetzt.

17.17 Uhr: Wir fahren!

17.20 Uhr: Die Zugbegleiterin, am Ende ihrer Nerven: „In Bienenbüttel steigen Sie bitte alle aus, alle. Der Zug fährt zwar weiter nach Lüneburg, doch erst mal holen Sie Luft und trinken Wasser. Es geht jetzt ums nackte Überleben.“ Vielleicht redet sie von sich.

Ich brauche Whisky!

17.25 Uhr: Wir halten. Kein Bahnsteig links, keiner rechts, die Aussicht ist hitzig-getrübt. Ich brauche Whisky, wenn ich überleben soll.

17.35 Uhr. Bienenbüttel, Paradies!
Ich weiß nicht genau, wann wir angekommen sind, und es ist egal. Hier gibt es Feuerwehr, Rettungssanitäter, Freiwillige, die ihren Sonntagnachmittag opfern, um uns zu versorgen, Wasser zu bringen und zu beruhigen.
Wir müssen dreimal in den Zug hinein- und wieder hinaussteigen, weil es widersprüchliche Kommandos gibt. Und dann wieder hinein. Und dann sagt die Zugbegleiterin die Anschlusszüge an.

Einige Fahrgäste sind unwillig geworden, wissen zu berichten, dass „die Bahn ein Kindergarten“ sei – ungeachtet der Tatsache, dass die Metronom-Eisenbahngesellschaft ein Konkurrenzunternehmen der Bahn ist und ungeachtet der Einsätze Freiwilliger, in deren Schar ich die Besserwisser gern einmal sehen würde. Unvermeidliche Lautsprecher eben, Kleingeister, die mit ihren Luxusproblemen den Alltag anderer belasten. Ich hätte sie auf die Gleise stoßen mögen.

Doch dann sehe ich im Augenwinkel meine 81-jährige Sitznachbarin, die sich einen Ast abfreut, weil ein junger Mann ihre Tasche von A nach B (und auch wieder zurück) trägt.
Und dann kann ich nur noch lachen.


Fotos und Video: Karla Letterman

 

 

Über Karla Letterman

Krimiautorin und Kolumnistin aus Lübeck. Stammt aus dem Harz und hat in Göttingen und Hamburg gelebt.
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