Poetry im Schatten des Wahnsinns

Ein Monster mit orangen Augen

Skulptur von Jörg Spätig

Poetry-Slam-Contests leben davon, dass „das Publikum ausrastet“, wie selbst der tiefenentspannte Tilo Strauss von Slam-A-Rama bei seiner Anmoderation fordert. Für Länderausscheidungs-Wettbewerbe gilt das ganz besonders. „Klatscht, stampft, kreischt, zündet die Bilder an, wenn euch ein Beitrag so richtig berührt!“, schickt Tilo sich an, die Menge aufzupeitschen. Er ist nicht der einzige, der sich am Übertreten von Markierungslinien versucht. Tom Toxic findet aufwühlende Worte, um eine Depression zu beschreiben.  Hannes Maasz erzählt vom ganz normalen Alltags-Irrsinn eines abgelegenen Dorfes, und Carina Hansen erklärt, „Selbstwert ist etwas Hauchzartes“. Slam Poetry im Schatten des Wahnsinns – die Kunsttankstelle ist der passenden Rahmen für dieses Halbfinale!

Es ist auch ein Sport, das erkennt man an den Regeln: An den schleswig-holsteinischen Poetry-Slam-Meisterschaften am 13.6. in Kiel kann teilnehmen, wer sich in den Halbfinalwettbewerben in Flensburg und Lübeck qualifiziert. Die dortige Siegerin oder der Sieger vertritt dann Schleswig-Holstein bei den deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisters­chaften 2019 im November in Berlin.

Humor als Kriterium

Anders als beim Sport gibt es hier keine Fach-Jury, sondern eine Art Publikumspreis. Aus der Zuschauer*innenmenge werden Menschen ausgewählt – entweder nach Nase oder weil sie sich gemeldet haben – die nach jedem Beitrag Wertungsnoten abgeben. Wie oft (seufz!) wünschte ich mir ein sprachlich geschultes Gremium!

Doch Poetry Slam funktioniert anders. Schenkelklopf-Humor ist ein wesentlicher Faktor für Begeisterung, und deshalb werden feinsinnige Beiträge meist auf die Plätze verwiesen. So auch wieder am Freitag, 7. Juni, beim Lübecker Halbfinal-Slam. Zehn Slam-Poet*innen, die die Vorauswahlen in Hamburg, Kiel und Lübeck überstanden haben, treten gegeneinander an. Und wie immer in diesem Genre, haben es die ersten Starter*innen schwer. Die Jurys haben noch keinen Maßstab und bewerten vorsichtig.

Der für Kiel startende Tom Toxic aus Schwerin und die Hamburgerin Khaaro sind wortgewaltig und stilsicher, doch beide nicht lustig, und das kostet sie Punkte.

Von den vier Teilnehmer*innen, die sich für das Finale in Kiel qualifizieren (Hannes Maasz, Anni Greve, Carina Hansen und Björn Katzur) ist Björn der sprachlich Platteste, und ausgerechnet er nimmt den Publikumspreis mit nach Hause. Sein Narrativ ist schnell erzählt: „Mir geht es gut. Doch leider ist heute meine Oma gestorben.“ Das hechelt er in diversen Varianten durch, was es in den Ohren des Publikums offenbar jedes Mal sensationeller macht. Das Bier in der Kunsttankstelle ist nicht teuer.

Wertungskarten werden hochgehalten

Raum in der Kunsttankstelle Lübeck

Zeugen Jehovas auf den Fotos

Erwähnen möchte ich die Lübeckerin Gen, die viel zu wenig Punkte absahnt für ihre originell erzählte Beziehungsgeschichte mit einem Bundeswehrsoldaten. Richtig abgefahren wird es, als sie die Erwartungen ihrer russisch-stämmigen Verwandtschaft schildert, „wie romantisch so ein siegreicher Held“ zu sein habe. Gen ist unprätentiös und präzise, selbstironisch und offen – was für schöne Eigenschaften für eine Slammerin!

Der ulkigste Spruch des Abends kommt für mich vom Veranstalter Tilo Strauss. Er erzählt, wie er den Siegerpokal akquiriert und präpariert hat. „Oben findet ihr ein Foto von applaudierendem Publikum. Ich weiß nicht, ob ihr Shutterstock-Fotos kennt. Jedes dieser Bilder sieht aus, als wären die Zeugen Jehovas drauf – egal was für’n Thema.“

Totenkopf-Skulptur: Poetry im Schatten des Wahnsinns

Pokal für Slam-Sieger/in


Fotos: Karla Letterman

Über Karla Letterman

Krimiautorin und Kolumnistin aus Lübeck. Stammt aus dem Harz und hat in Göttingen und Hamburg gelebt.
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