Ideen beim Kaktus-Starren

Ein runder Kaktus mit langen StachelnDie originellsten Ideen kommen einem bekanntlich beim Duschen – die intelligentesten jedoch beim Starren. Rein zufällig stand ich vorhin neben dem Küchenfenster, als die neuen Nachbarn zwei Häuser weiter einzogen. Leider stockte die Weiterfahrt ihres Lieferwagens. Sollte mir der Blick auf den neuen Hausherrn wieder verwehrt bleiben? Bereits zuvor verhinderten Launen des Schicksals, dass ich den Mann zu Gesicht bekam, der laut Bine von nebenan durchaus sehenswert ist. Vorgestern klingelte, just dass ich ein halbes Sekündchen aus dem Küchenfenster geschaut hatte, der Paketbote Sturm. Gestern stach ich mich am Kaktus, als ich der rechte Ecke der Fensterbank zu nah kam. Natürlich entstieg der neue Nachbar in dem Moment seinem Auto, als ich ein Taschentuch um das blutende Handgelenk schlang. Wer, zum Henker, blockierte denn da jetzt den Lieferwagen?

Natürlich der Paketdienst! Alle Welt bestellt im Internet, solange das Konto mitmacht, nur um sich die Zeit zu vertreiben. Wie sonst ist es zu erklären, dass ich für Hansens im Erdgeschoss schon 13 Pakete mit Gartenbedarf annehmen musste, obwohl sie nur einen Mini-Balkon haben? Das Paar aus Nr. 20 gibt dem Boten jedesmal ein dickes Paket mit zurück, das Bestellen scheinen sie als Beschäftigungstherapie für die Auslieferer zu sehen.

Auch unabhängig vom verhinderten Blick auf den schicken Nachbarn  gehen mir Auswüchse der Konsum- und Wegwerfgesellschaft entschieden zu weit. Eigentlich kann jeder Wirtschaftswissenschaftler, der ganzheitlich denkt, nachvollziehbar erklären, warum das Wachstums-Paradigma längst nicht mehr in die Zeit passt. Und dann höre ich beim Warten an der Bushaltestelle, wie junge Frauen über ihr Hobby reden. Shoppen. Die meinen das ernst!

Zwei Kakteen vor einer BacksteinwandBeim Starren aus dem Küchenfenster muss ich an ihre Gesichtsausdrücke denken. Inspiriert sehen sie nicht aus – inspirierend natürlich auch nicht. Viel eher scheinen mir ihre Blicke Langeweile und Angeödetsein zu spiegeln. Als hörten sie den ganzen Tag lang das monotone Geträller vom Material Girl.

Mein Blick fällt auf den Übeltäter-Kaktus auf der Fensterbank, und mir kommt das alte Loblied  in den Sinn. Mag auch sein Humor ziemlich angestaubt sein, so bringt es mich doch dazu, den Kaktus und seine Verwandten genauer in Augenschein zu nehmen, ihre vielfältigen Wuchsformen zu bewundern und über ihre bescheidenen Ansprüche gerührt zu sein. Ehe ich’s mich versehe, ist eine halbe Stunde rum. Wieder habe ich den neuen Nachbarn verpasst! Dafür habe ich eine Idee, die Hansens betreffend. Ich bringe ihnen morgen einen Ableger für ihren Balkon, verbunden mit der Empfehlung, ihn eingehend zu betrachten. Ich wette, sie vergessen darüber, neuen Firlefanz zu bestellen!


Fotos: Karla Letterman

Über Karla Letterman

Krimiautorin und Kolumnistin aus Lübeck. Stammt aus dem Harz und hat in Göttingen und Hamburg gelebt.
Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.