Herrn Novembers plötzliche Lust auf Rosa

Rosa Himmel im NovemberDer November. Ich stelle ihn mir vor als etwas griesgrämigen alten Herrn, der eine grobleinerne Kutte von undefinierbarer Farbe trägt, die so weit ist, dass er selbst nicht mehr weiß, wie seine Figur aussieht.

Seine erste Handlung bei Amtsantritt an jedem 1.11. besteht darin, aus den Farben am Firmament die Sättigung herauszudrehen. Natürlich drückt er dazu nicht einfach ein paar Tasten und lässt ein Bildbearbeitungsprogramm den Job erledigen. Das funktioniert vielleicht bis zum Format DIN A0. Herr November jedoch hat es mit anderen Dimensionen zu tun. Er begibt sich deshalb zu einem Monstrum von Maschine mit Tausenden Reglern, Hebeln und Zahnrädern, die alle zusammenhängen, doch für Menschen wäre das undurchschaubar.

Er verschafft sich einen Überblick über alle 555 Drehräder. Man kann sie sich wie überdimensionale Schrauben vorstellen, um deren Kopf herum noch eine Art Geländer zum besseren Anfassen angebracht ist – ähnlich wie bei den altmodischen Drehkarrussels, die es früher auf jedem Spielplatz gab.

Drehräder für Blau und Rottöne

Blau im November 2018Herr November stutzt wie immer zu Anfang: er muss sich wieder in die Apparatur hineindenken, es ist schließlich elf Monate her, dass er sie zuletzt benutzt hat. Seine Erinnerung kommt aber schnell zurück, denn er macht das mit den Farben ja jedes Jahr im Herbst, seit Menschengedenken. Und zwar nicht nur am Firmament, denn bei seiner zweiten Amtshandlung muss er sich um Bäume und Blumen kümmern, danach um alle Gegenstände aus Stein, dann um Metall, und so geht das noch etliche Schritte weiter.

Zuerst dreht er aus dem Himmel ein bisschen Blau heraus, mit dem Regler dort drüben macht er die Rottöne blass. Er besieht sich das Zwischenergebnis, wiegt unschlüssig den Kopf, an dessen Kinn ein langer, grauer, feingelockter Bart wallt, und betätigt das Drehrad für das Winterjasmingelb.

Die Wirkung der Firmamentfarben

Regenbogen im NovemberPlötzlich bläst er unwirsch in den Wolken-Aufenthaltsraum herein, in dem Feder-, Schleier- und Cumuluswolken allzu lässig zurückgelehnt die neusten Gerüchte über Petrus’ Gewitterstrategie austauschen. Die aufgescheuchten Wolken flattern dann hektisch über die Himmelsgalerie und werden vom wechselnden Licht beschienen. Herr November reibt sich die Hände: jetzt kann er die Wirkung der Firmamentfarben beurteilen! Ach herrje, zaubert der Sonnenuntergang nicht noch viel zu viele Anteile von Himbeere, reifem Pfirsich und pink Grapefruit in die Wolkenkleider? Das muss geändert werden! Er widmet sich wieder den Rädchen und Hebeln an seiner Monstermaschine.

Doch 2018 läuft irgendwas anders. Die bunten Farben sind nicht so ausgehungert wie sonst um diese Jahreszeit. Es ist fast schon Dezember, und doch liegt erstaunlich viel Pastell in der Luft. Man könnte meinen, Herr November habe seine Kutte gegen ein modernes zartrosa Hemd eingetauscht. Mit fliederfarbener Krawatte womöglich…?!

Rosa Gräser im NovemberIch habe eine Idee, was passiert ist. Herr November hat die liebliche Frau September kennengelernt. Wahrscheinlich hat sie, als sie nach Dienstschluss am 30.9. eigentlich schon hätte gehen können, noch neugierig dem Oktober über die Schulter geschaut, weil sie seit Langem wissen wollte, wie der die Goldtöne zusammenmischt. Das hat sie so fasziniert, dass sie länger und länger blieb und – was vorher noch nie passiert ist – Herrn November begegnete, der in diesem Herbst zufällig früher dran war. Der hat sofort seine Verdrossenheit vergessen und sich dann heimlich, in einem nicht einsehbaren Winkel hinter der Monstermaschine, umgezogen.

Die Fütterung der Farben

So oder ganz ähnlich muss es sich zugetragen haben. Und jetzt hilft Frau September dem November bei der Fütterung der Farben. Und wenn sie mit dem Sonnenuntergang fertig sind, kochen sie sich selbst ein Kürbissüppchen und genießen das satte Orange.

Doch Obacht: der Dezember ist im Anmarsch! Man sagt, der wird sich in diesem Jahr besonders anstrengen, um den Sommermonaten die Show zu stehlen. Sollte er es ernst meinen, wird er bestimmt lauter gemeine Sachen mit Wind und Wolken anstellen.

Roséfarbener Farn auf dem ZingstBlau im Hafen von Ribnitz

Efeu im Novemberwald

 

 

 

 

 

 


Fotos: Karla Letterman

Über Karla Letterman

Krimiautorin und Kolumnistin aus Lübeck. Stammt aus dem Harz und hat in Göttingen und Hamburg gelebt.
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