Können heutige Journalisten hellsehen oder nur hell-sehen?

Überschrift mit glanzvollem VerbJüngst ließ mich eine Überschrift stutzen, die an prominenter Stelle in den Lübecker Nachrichten abgedruckt war – als Aufmacher des Lokalteils. Es war beileibe nicht das erste Mal, dass ich dachte: o, die Journalistinnen und Journalisten von heute müssen hellsehen können!

Woher sonst will die Autorin wissen, dass der Zirkus Roncalli Lübeck im August verzaubern wird? Es geht um den August 2019, nicht etwa um eine Rückschau.

Ich stehe Roncalli nicht feindlich gegenüber, nein, ich plane sogar, die Vorstellung zu besuchen. Und tatsächlich hat mich eine Roncalli-Aufführung schon einmal verzaubert, es war vor einigen Jahren in Hannover.

Doch selbst wenn man wie ich diesem Zirkus gewogen ist, gibt es handfeste Gründe, nicht im Vorhinein zu jubeln. Man stelle sich vor:

  • Roncalli bekommt kurzfristig ein unschlagbares Angebot von Scheich Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah und tritt im Orient statt in unserer Hansestadt auf.
  • Der Zirkus reist zwar in Lübeck an, baut auch die Zelte neben dem Holstentor auf, doch im nächsten Sommer gibt es als Ausgleich zur 2018er Trockenzeit monsunartige Regenfälle, und das potenzielle Publikum schippt zu Hause die Keller leer, statt anderswo Drahtseilakte zu bestaunen.
  • Der Scheich hält sich zurück, ebenso Petrus, das Publikum jedoch nicht: es strömt scharenweise in die Roncalli-Vorstellungen. Dort wird es jedoch nicht verzaubert, weil…
    • …drei wichtige Artistinnen auf Grund der Scheich-Absage einen psychischen Schock erlitten haben und etliche Nummern deshalb nur halbherzig aufgeführt wirken.
    • …der Zirkusdirektor zu viel Quasselwasser getrunken hat und den Zauber gnadenlos zerredet.
    • …die Zuschauer erwarten, verzaubert zu werden, und jede einfach nur hervorragende Leistung der Artisten superkritisch beäugen.

Vielleicht muss man als Journalist/in heute nicht mehr soweit denken. Vielleicht liegt das Problem aber auch anderswo, nämlich in der verzweifelten (und zum Scheitern verurteilten!) Suche nach Synonymen zu glanzlosen Verben.

Das Problem mit den glanzvollen Verben

Die pure Nachricht ist: Roncalli plant im August in Lübeck aufzutreten. (Ja, super, werden sich alle Fans sagen und jubeln!)

Doch der Trend lautet: sag den Lesern, welche Gefühlsregung sie gefälligst zu empfinden haben! Dass irgendetwas stattfindet, ausgetragen oder angeboten wird, scheint niemand mehr schreiben zu wollen. Statt dessen lesen wir von Bratwurst- und Glühweinbuden auf dem Weihnachtsmarkt, deren Produkte „zu genießen“ sind. Von Schlussverkaufswaren, an denen wir uns „erfreuen“ können. Und von diesem oder jenem Auftritt, der uns „verzaubern“ wird.

Selbst wenn der Journalistenberuf heute nicht mehr halb so befriedigend sein dürfte wie noch vor 20 Jahren und ich deshalb verstehe, dass sich Schreiberlinge dann gleich den Werbeagenturen andienen möchten: Liebe Kolleginnen und Kollegen, bedenkt doch bitte, dass sich glamouröse Verben sehr schnell abnutzen!

Über Karla Letterman

Krimiautorin und Kolumnistin aus Lübeck. Stammt aus dem Harz und hat in Göttingen und Hamburg gelebt.
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