Gebremstes Überschnappen

Gebremstes Ueberschnappen, SchrankeHeute ist ein Eigentlich-Tag. Sonne, geöffnete Eisdielen, Sitzplätze draußen – ein Tag, an dem man vor Freude und Übermut überschnappen könnte.

Wäre da nicht das Bewusstsein, dass diese Laune, diese Freude fragil ist. Denn wir wissen: ab morgen bleibt das Café, in dem wir gerade  selbstgebackene Mohntorte genießen, auf unbestimmte Zeit geschlossen.

Äh – hat da nicht gerade der nette Kellner auf den Kuchen geniest? Und wer hat eigentlich vor mir den Griff der Toilettentür angefasst? Gilt die Dreisekunden-Regel auch für das neue Corona-Virus? Will heißen: Wenn ich nur schnell genug meine Hand wieder wegziehe, kann dann das Virus nicht überspringen?

Von einem Tag auf den anderen hat sich alles geändert. War es am Freitag noch denkbar, dass Festivals Mitte April wieder stattfinden, dass nach den Osterferien eine gewisse Normalität zurückkehrt, so wird heute jeder als Naivling abgetan, der das geglaubt hat.

Man beginnt sich zu fragen: Wer bezahlt die Servicekräfte, die ab morgen zu Hause bleiben? Wie gut kann sich Mami im Homeoffice konzentrieren, wenn der Zweijährige, dessen KiTa verriegelt wird, zu toben beginnt? Wovon kaufen eigentlich all die Freiberufler*innen, die Theater-, Gitarren- und Tai-Chi-Kurse geben, ihre Lebensmittel, wenn sie keine Einnahmen haben?

Eigentlich kann man all die Eigentlichs gar nicht überblicken. Kein Wunder, dass sich ein gewisser Fatalismus breitmacht. „Besser, sich jetzt anstecken als in drei Wochen, denn jetzt gibt es wenigstens noch Krankenhausbetten.“

Auch angesichts all der Unwägbarkeiten könnte man überschnappen. Wie, du hast noch kein Klopapier gebunkert? Im Supermarkt gibt es wirklich keines mehr. Was willst du essen, wenn du in Quarantäne gestellt wirst? Die letzten Nudelpackungen hast du leider verpasst.

Ja, wo leben wir denn?! Es ist doch nicht die Spanische Grippe, mit der wir konfrontiert sind. Oder ist das hier etwa vergleichbar? Dass die Politiker*innen nicht Klartext sprechen, ist uns bewusst.

Da torkeln wir also durch Fußgängerzonen, gönnen uns eine Kugel Champagnereis, werfen einen Blick auf die pastellfarbenen Frühlingsblusen, die wir noch nie gebraucht haben, und wissen nicht, wie es mit unserer kleinen, feinen Welt ab Montag weitergeht. Wir könnten überschnappen, doch die Emotionen sind gebremst.

Eine Bar, die heute geöffnet hat – aber wer weiß, ob morgen noch – zitiert einen Spruch von Udo Lindenberg: „Realität ist nur eine Illusion, die sich durch Mangel an Alkohol einstellt.“  Dies hat Udo gleich mehrfach illustriert. Man möchte es so gern glauben!


Foto: Karla Letterman

Über Karla Letterman

Krimiautorin und Kolumnistin aus Lübeck. Stammt aus dem Harz und hat in Göttingen und Hamburg gelebt.
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