Ersatztätigkeiten

Wolle liegt neben einem Laptop als Ersatztätigkeit»Ich weiß nicht weiter«, dachte Henri und starrte die Wand an. Nach zwei Stunden saß er immer noch vor der Wand, im Kopf nichts als Watte. Er fragte sich: ????

Ich sitze vor dem Laptop und starre verständnislos auf die Stelle, an der der Cursor auffordernd blinkt. Was soll nach den Fragezeichen kommen? Sollten da überhaupt so viele Fragezeichen stehen? Ach, was weiß denn ich …

Mein Blick wandert aus dem Fenster. Zieht das junge Pärchen dort drüben etwa schon wieder aus? Warum bloß? Fühlen sie sich hier nicht wohl? Ist die Wohnung doch zu teuer? Verstehen sie sich nicht mit den Nachbarn?

Nach zwei Stunden bemerke ich, was ich geschrieben habe. Wieso sollte Henri die Wand anstarren? Habe ich da nicht etwas auf ihn übertragen? Was mache ich hier eigentlich die ganze Zeit?!

Prokrastinieren ist ein Fachwort in der Welt der Autor*innen, das man in letzter Zeit öfter hört. Es bedeutet: Ich schiebe eine wichtige Aufgabe hinaus, indem ich mich in einer Ersatztätigkeit verliere.

Aus dem Fenster starren – wie gut ich das kann! Noch besser allerdings kann ich handarbeiten, und das ist auch meine Lieblings-Prokrastination, wenn man so will. In einschlägigen Foren wird immer wieder danach gefragt. Im Instagram-Kosmos gibt es ein eigenes Hashtag dafür. Natürlich, ich bin nicht die einzige, die eine Ersatztätigkeit der Pflicht vorzieht.

Strickzeug - und als Ersatztätigkeit daneben liegt HäkelzeugIrgendwie wandert die Wolle solange durch mein Zimmer, bis sie auf dem Schreibtisch neben der Tastatur liegt. »Das ist Recherche für den nächsten Handarbeitskrimi«, sage ich mir, wenn meine Hände wie eigenständige, willensstarke Wesen nach den Nadeln greifen. Doch das Schuldbewusstsein meldet sich in Form einer etwas gehässigen Stimme, die mir ins Ohr flüstert: Es wird gar keinen nächsten Handarbeitskrimi geben, wenn du nicht weiterschreibst …

Ist Prokrastination also schlimm? Es kommt auf das Maß an, denke ich. Ein Stück weit ist sie ganz normal und betrifft auch andere Tätigkeiten, nicht nur die Pflichten. Das merke ich spätestens, als mein Häkel-Ich plötzlich keine Lust mehr auf Stäbchen und Luftmaschenbögen hat und sich nach dem Strickzeug sehnt: Einfach mal klassisch zwei rechts, zwei links aneinanderreihen, das wäre es jetzt! Da ich seit Weihnachten wieder genügend Wollvorräte habe, ist es ein Leichtes, der Sehnsucht nachzugeben.

Und wie bekomme ich nun den Bogen zurück zum Schreiben?

Henri greift zum Strickzeug. Doch nach zwei, drei Reihen Perlmuster hat er keine Lust mehr, am Winterschal weiterzuarbeiten. Er steht auf und schlurft ins Lager. Da strahlt ihn doch tatsächlich diese Baumwolle an, von der Edda beteuert hat, damit häkele sich wie von selbst ein Kissenbezug! Henri überlegt … aber nicht lange!


Fotos: Karla Letterman

Über Karla Letterman

Krimiautorin und Kolumnistin aus Lübeck. Stammt aus dem Harz und hat in Göttingen und Hamburg gelebt.
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