Wenn wir einen verzweifelten Menschen trösten wollen, sagen wir gern: »Du wirst sehen, das Leben geht weiter.« Was ist so toll am Weitergehen?
Man sieht es vielleicht nicht auf den ersten Blick, doch es ist dieses Kontinuierliche, das beruhigt. Wer niedergeschlagen ist, möchte, dass sich die aktuelle Situation ändert, möchte wieder aufstehen. Und die Versicherung, das Leben gehe weiter, besagt: Du wirst die Verzweiflung überwinden. Du selbst wirst weitergehen.
Gehen hat auch etwas Bürokratisches. Es klingt so exakt, korrekt-zielstrebig, unbeirrt und unbeirrbar. Tack, tack, wie ein Uhrwerk. Ein Anachronismus, heutzutage. Entschlossenes Vorangehen setzt einen geeigneten Weg voraus.
»Wir machen den Weg frei«, wirbt eine Bank seit Jahren. Ja, dann macht mal, Leute! Wir sind gespannt. Was Ihr mit diesem Spruch meint, ist, dass Ihr uns mit dem nötigen Kleingeld versorgt, um handgenähte Schuhe oder das lang ersehnte Ledersofa zu kaufen. Und nun? Nun sitzen wir, mit schicken Schuhen angetan, auf unserem perfekten Sofa und sind verzweifelt.
Es geht nicht einfach so weiter. Wir können nicht wie gewohnt weitergehen. Verwöhntes Volk, das wir sind, müssen wir uns damit abfinden, dass all unser Geld nicht ausreicht, uns die Wege zu ebnen. Wir müssen damit klarkommen, zu straucheln, zu stolpern, zu schlingern und nur schleichend vom Fleck zu kommen – wenn überhaupt.
»Weiter gehen« ist eine Ausstellung der Gemeinschaft Lübecker Künstler betitelt, die bis 30. Januar verlängert wurde. Sehen kann man die Werke derzeit nur durchs Schaufenster der Galerie. Künstler*innen müssen weiter gehen, extremer sein, als der Rest der Gesellschaft, wenn sie uns etwas sagen wollen. Sie müssen provozieren und pointieren.
»Das geht zu weit«, sagt mancher angesichts aufrüttelnder Werke. Das ist die andere Bedeutung des Gehens, eine, die dem Tack-tack eine schmerzende Grenzüberschreitung anhängt.
Denn Weitergehen kann auch bewirken, dass Verzweiflung wächst.
Fotos: Karla Letterman