„Ich habe im Fünfsternehotel übernachtet.“ – „Na und? Ich habe mich auf der Bühne der Musikhochschule in eine Decke gekuschelt und drei Professoren für mich spielen lassen.“
Was wie größenwahnsinnige Aufschneiderei klingt, war bis kurz vor dem Morgengrauen in Lübeck Realität. Denn beim Nachtkonzert Durch die Dunkelheit zum Licht wurde das Publikum ausdrücklich eingeladen, es sich auf vorbereiteten Lagern bequem zu machen. Ein genial-aberwitziger Abend.
„Sie dürfen auch gern zwischendurch rausgehen“, erklärte Prof. Johannes Fischer um 0.40 Uhr in seiner Begrüßungsansprache, „solange sie keine Unruhe stiften.“ Fischer, Dozent für Schlagzeug, war zugleich einer der drei Künstler/innen, die das Werk For Philip Guston des US-amerikanischen Komponisten Morton Feldman aufführten.
Außer Fischer musizierten Flötistin Prof. Angela Firkins und Prof. Dieter Mack an Klavier und Celesta. Letzterer hatte sechs Tage vorher in der Musik- und Kongresshalle im Publikum die großartige Uraufführung seines eigenen Stückes Ical verfolgt – nun war er gewissermaßen eine Ebene zurück gerückt, um das Werk eines anderen erlebbar zu machen.
Kostenlose Konzerte beim Festival
In der Lübecker Musikhochschule lässt man sich vieles einfallen, um die Bevölkerung „mitzunehmen“. Im Rahmen des gerade zu Ende gehenden Brahms-Festivals 2019 gab es acht Tage lang kostenlose (!) Konzerte zu jeder Tageszeit: darunter „Brahms am Morgen“ in der Jakobikirche mit Choralvorspielen und Einblicken in den Briefwechsel des Künstlers und Lunchtime Concerts für die Mittagspause. Auch für das fast fünfstündige Nachtkonzert wurde kein Eintrittsgeld erhoben.
Das Werk For Philip Guston war für diesen Zweck perfekt gewählt. Die sphärischen Klänge wirkten auf einige offenbar wie ein Wiegenlied, während andere konzentriert lauschten. Hatte man sich auf Langsamkeit und die sparsame Instrumentalisierung eingelassen, erkannte man den Variantenreichtum. Im Wikipedia-Artikel wird der Charakter der Musik anschaulich erklärt:
„Während die Vertreter des Minimalismus sich überwiegend an, zum Teil geradezu bewusst trivialen, tonalen Strukturen orientieren, gilt Feldmans Interesse offenen, sozusagen funktionsfreien Klängen, die besonders in seinem Spätwerk in stetiger Abwandlung präsentiert werden, als wolle er dem Hörer Zeit geben, diese Klänge in einer Weise kontemplativ aufzunehmen, so wie ein Bild betrachtet werden kann.“ (Zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Morton_Feldman, Stand 12.5.2019).
„Wie ein Bild betrachtet werden kann“ – damit steht der Zusammenhang zu Feldmans Freund, den Maler Philip Guston, dem das monumentale Stück gewidmet ist.
Was mag drei Professoren dazu bewogen haben, sich für diese Aufführung die Nacht um die Ohren zu schlagen? Nicht wissend, ob im Publikum womöglich die kostenbewussten Banausen überwiegen würden?
Es kann nur pure Leidenschaft sein! Passion und Virtuosität: Das ist es, was das Brahms-Festival nach meinem Empfinden aus der Hochschule heraus in die Stadt getragen hat.
Fotos: Karla Letterman