Die Sache mit dem Schiff, den Nägeln und der Arbeit

Beinah alle Motivations-Trainer*innen und bestimmt jeder zweite Consultant hat schon den Antoine de Saint-Exupéry zugeschriebenen Spruch mit den Männern, die ein Schiff bauen sollen, angebracht.

Mal wird er so wiedergegeben:

Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.

Mal heißt es: Es ist nicht das Schiff, das durch das Schmieden der Nägel und das Sägen der Bretter entsteht. Vielmehr entsteht das Schmieden der Nägel und das Sägen der Bretter aus dem Drang nach dem Meere und dem Wachsen des Schiffes.
Die Gelehrten streiten noch, wo er es genau gesagt habe, wie der Text korrekt zu übersetzen sei und ob überhaupt Saint-Exupéry die Quelle ist, doch das spielt hier keine Rolle. Mein Fokus liegt auf der Behauptung, ein Ziel, ein Wunschbild müsse nur genug Sehnsucht wecken, um als Antriebsmotor für schwere oder ausdauernde Arbeit zu taugen.
Dass Menschen sich von einem Traum zu allerlei Aktion treiben lassen: geschenkt. Sie beginnen mit unliebsamen Tätigkeiten, sie investieren Geld, Zeit, Energie, riskieren Ärger in Familie und Freundeskreis, vernachlässigen Alltagspflichten… nichts Neues. Wie geht es dann weiter? Halten sie durch?

Träume ruhig von deinem Schiff!

Lebe deinen Traum ist heute eine ähnlich wohlfeile Aufforderung wie carpe diem. Dazu werden Bilder geliefert, wie sie unbeschwerter nicht sein könnten, oft sind es Bilder von Weite, Sonne, Liebe und Freiheit. Eine Ausfahrt im Oldtimer-Cabrio – als Frau mit raffinierter Sonnenbrille und schmeichelndem Schal wie Audrey Hepburn. Ein stolzer Ritt durch erhabene Landschaft auf edlem Warmblut. Ein Waldspaziergang mit dem treuen, wachsamen Hund. Ein abenteuerlicher Segeltörn.
Träume haben es an sich, sozusagen der Hochglanztitel eines Kapitels zu sein, das im echten Leben spielt. Manches Cabriolet verbringt deutlich mehr Zeit in Werkstatt und Garage als dass es schnittig durch die Gegend braust. Ein Pferd vertilgt ungeheure Mengen duftenden Heus, auch in Jahren schlechter Ernte. Der Hund muss zum Tierarzt und braucht bei Schneesturm Bewegung. Und das Schiff…
Angesichts der Dummheit und Oberflächlichkeit trügerischer Werbeslogans möchte ich dazu anregen, den Spruch von Saint-Exupéry oder wem auch immer rückwärts zu lesen. Das geht dann etwa so: Träume ruhig von deinem Schiff. Doch bevor du es dir ernsthaft wünschst, denk an all die Nägel und Bretter, das Sägen, Schmieden und Anstreichen, das vor dir liegt. Und bevor du einen Motivationstrainer engagierst, vergewissere dich, dass er weiß, wo der Hammer hängt.


Fotos: Karla Letterman

Über Karla Letterman

Krimiautorin und Kolumnistin aus Lübeck. Stammt aus dem Harz und hat in Göttingen und Hamburg gelebt.
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