Die mysteriösen Gedenktafeln

Gedenktafeln in der Burchardi-Kirche HalberstadtSie betreten eine Kirche, halten einen Moment inne, Ihr Blick fällt gleitet über die Seitenwände. Da erfasst Sie ein eiskalter Schauder. Auf den Gedenktafeln zu Ihrer Linken stehen Jahreszahlen, die in der Zukunft liegen! Sie fühlen sich wie mitten in einem Thriller.

Wie es oft ist angesichts von Unfassbarem, klammert sich Ihr Hirn an den nächstbesten Strohhalm, sprich: klaren Gedanken. Wie hieß denn noch dieser Film mit den unheimlichen Grabinschriften? Oder war es ein Roman von Stephen King? Oder haben Sie das etwa selbst geträumt?

Da, plötzlich …

… müssen Sie stutzen. Etwas ist in Ihr Bewusstsein gesickert. Diese Jahreszahl da: 2250. Daneben 2251, 2252. Das ist gar nicht unheimlich, das ist logisch: Egal welche Namen dort stehen mögen, die Menschen sind dann ganz sicher tot. Jedenfalls wenn sie heute leben … Was also sind das für verrückte Inschriften?

Ausnahmsweise sei das Rätsel an dieser Stelle aufgelöst: Es handelt sich um ein Kunstprojekt, das sich selbst offiziell für verrückt erklärt. (Mit einer lesenswerten Begründung!)

Burchardi-Kirche in HalberstadtIn der fast tausend Jahre alten Burchardi-Kirche in Halberstadt wird ein Werk des Komponisten John Cage aufgeführt, das auf 639 Jahre ausgelegt ist. As Slow As Possible lautet sein Titel, der zugleich Programm ist. Denn nicht nur die Frage, was denn „so langsam wie möglich“ sein soll, lädt zum philosophischen Diskurs ein. Ein Diskurs, der dank der John-Cage-Orgel-Stiftung Halberstadt auch geführt wird, was vom Komponisten durchaus beabsichtigt war.

Zurück zu den Gedenktafeln: Es handelt sich um so genannte Stiftertafeln. Man kann sozusagen die Patenschaft für einen Klangwechsel übernehmen und dafür seinen Namen verewigen lassen. Verewigen? Genauer gesagt, sollen die Gedenktafeln bis zum geplante Ende der Aufführung im Jahr 2640 hängen bleiben. Aus heutiger Sicht eine gewisse Annäherung an den Begriff von ewig, oder?

Übrigens: der nächste Klangwechsel findet am 5. Februar 2022 statt, der übernächste am 5. Februar 2024. Interessierte, die live dabei sein wollen, sollten sich rechtzeitig um eine Unterkunft kümmern. Bislang (vor Beginn der Pandemie) waren die Hotelzimmer in Halberstadt und Umgebung schon lange vorher ausgebucht.


Fotos: Karla Letterman

Über Karla Letterman

Krimiautorin und Kolumnistin aus Lübeck. Stammt aus dem Harz und hat in Göttingen und Hamburg gelebt.
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