Als meine Freundin Jeanette sich die Diagnose ihrer Orthopädin durch den Kopf gehen ließ, fand sie: die Ärztin hatte sie zu schnell abgefertigt. Jeanette hat eine komplizierte Knieverletzung, und die Aussicht auf dauerhaftes Humpeln hätte eine sorgfältigere Untersuchung gerechtfertigt. Sie beschloss, sich alles noch einmal in Ruhe selbst anzusehen. Also tippte sie zu Hause ihre Sozialversicherungsnummer im Gesundheitsportal ein, und ein paar Klicks später hatte sie die Röntgenbilder auf dem Schirm.
Jeanette lebt in Dänemark. Dort gibt es die elektronische Patientenakte seit Jahren. Jede/r Versicherte kann Abrechnungen kontrollieren, Laborergebnisse einsehen, seine Einwilligung zur Organspende hochladen oder ihre Patientenverfügung bearbeiten. Währenddessen sind wir hier, ein paar Kilometer weiter südlich, schon froh über jede Arztpraxis, die sich einem Online-Terminvergabeportal angeschlossen hat.
Digitales Zeitalter
Ach ja, die Dänen! Wir kennzeichnen sie gern etwas überheblich als hyggeliges Volk, also als nett und gemütlich. Doch während wir noch von ihren kuscheligen Ferienhäuschen mit heimeligen Vollholzmöbeln träumen, sind die Jungs mit der genuschelten Aussprache längst im digitalen Zeitalter angekommen. Die Mädels natürlich auch, siehe Jeanette.
Nicht nur die Gesundheitsakten sind digitalisiert, jede Menge andere Daten auch, dazu kommen Algorithmen für ihre Verwendung, beispielsweise beim automatisierten Einparken. Die Kopenhagener Metro verkehrt fahrerlos, und im Zusammenhang mit dem Fehmarnbelttunnel pocht man von dänischer Seite auf eine Auslegung für autonome Fahrzeuge.
Da zeigt sich die skandinavische Ader für Praktisches. Auch die Einrichtung in besagten Ferienhäusern hat seit jeher durch pfiffige Lösungen für kleine Bäder und Küchen überzeugt. Es gibt platzsparende Mülleimer, und eine Dusche entsteht, indem man den Vorhang um den Abfluss zuzieht. Der Ablauf ist vertieft, der Rest des Bades wird nicht überschwemmt – das war schon so, lange bevor man es in deutschen Inneneinrichtungsmagazinen nachlesen konnte.
Harte Kante
Plietsche Raumwunder, geschicktes Werkzeug – passt alles zum Feeling von „hyggelig“. Doch was Kopenhagens neuen Stadtteil Ørestad angeht: heimelig und seine Synonyme sind sicher das letzte, was einem dazu einfällt. Beton, Glas und Wasser bestimmen den Look; harte Kante, klar und spiegelnd zeigen sich die Oberflächen. Das wiederum passt zu Digitalisierung: Funktionalität und Pragmatismus sind die Stichworte. Individualität und Wärme fehlen im Konzept (leider kommt einem die dänische Politik seit einiger Zeit auch so vor), die lassen sich ja durch Kübelpflanzen und Heizstrahler auf dem Balkon verschaffen. Man brüstet sich mit interessanter Architektur – zu Recht. Allerdings verwende ich das Etikett „interessant“ in diesem Fall so, wie wenn jemand von ebensolchem Essen spricht.
Jeanette ist keine kritiklose Technikverherrlicherin. Doch die digitale Patientenakte hat es ihr ermöglicht, jeden Millimeter ihres Knies von innen anzusehen und zu den Diagnosen zweite und dritte Meinungen einzuholen. Sie hat dann selbst entschieden, welche Art von Krankengymnastik sinnvoll ist – und hat die richtige Wahl getroffen. Deshalb kann sie mich demnächst besuchen kommen.
Sie wird wieder einmal erstaunt sein, wie häufig sie in good old Germany noch Bargeld braucht. Als ich im Sommer bei ihr war, haben wir selbst an der kleinen Eisdiele um die Ecke mittels Karte bezahlt. Jetzt kennt Big Brother meine Lieblingssorte. Hoffen wir, dass er einer von den Hyggeligen ist!
Fotos: Karla Letterman