Neues aus meiner Reihe „verkannte Tiere“: In unserem Viertel gibt es einen Krähenbaum, der über magische Anziehungskräfte verfügen muss. Zum ersten Mal beobachtete ich das Schauspiel vor etwa einem Jahr, doch ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Ich fuhr im Dämmerlicht über die Lübecker Lohmühle, eine unwirtliche vierspurige Straße bei der Autobahn. Da wurde es auf einen Schlag dunkel.
Und laut. Der Himmel über mir war nämlich dicht bevölkert von hunderten, ach was: tausenden krächzenden Krähen. Erstaunt und fasziniert hielt ich an: das musste ich genauer betrachten!
Das Hupen hinter mir hörte ich so gut wie gar nicht, denn die Vögel hatten ein Black-Feather-Konzert angestimmt. Dabei gibt es keine zarten Hausmusikklänge, sondern enthemmte Schreie, die nach Wacken passen würden.
Ehrfurcht erfasste mich. Ich gehöre zur Minderheit der Krähen-Fans, das bekenne ich hiermit ausdrücklich. Und die Schwarmgrölerei auf dem Weg zum Krähenbaum trägt einen Gutteil dazu bei. Denn die Rabenvögel übertönen den Autolärm, sie machen die Umgebung … fast hätte ich gesagt: menschlicher. Na, lebenswerter auf jeden Fall, zumindest in meinen Augen und Ohren.
Was ich nicht verstand: Warum haben sich die als schlau geltenden Vögel einen Krähenbaum, also ihren Schlafplatz, neben der Autobahn auserkoren?
Tatsächlich haben sie dafür gute Gründe, man kann sie sich im Netz zusammenlesen: Wärme, Futter und Übersicht.
Sozusagen bei Lichte betrachtet – den Straßenlaternen bei der Krähenbaum-Kreuzung – leuchtet die Wahl ein. In der Stadt ist es wärmer und schneeärmer als auf dem Land. Es gibt (Kunst-)Licht bis in die Nachtstunden. Und auf beiden Seiten der Lohmühle haben sich Schnellrestaurants angesiedelt. Die essbaren Hinterlassenschaften der Wohlstandsgesellschaft bieten den Vögeln Nahrung. Sie mögen als Aasfresser unbeliebt sein, doch die Abfallwirtschaft hätte allen Grund, sich bei ihnen zu bedanken.
Stellvertretend tue ich das. Manchmal starre ich mit offenem Mund in den Abendhimmel, bis mir einfällt, dass ich denen was zu sagen habe: Merci, merci!
Ich bin sicher, die intelligenten Tiere verstehen das! Wenn sie – wie eine meiner Lieblingsbloggerinnen das vermutet – die Weltherrschaft übernehmen wollen, sollten sie das auch…
Fotos: Karla Letterman