Lass es raus!

Viele Menschen sitzen um eine Freilichtbühne herumAls ich vor drei Tagen im Auto bei offenem Fenster „With or without you“ mitschmetterte, hätte ich nicht vor der Ampel halten sollen, auch wenn sie rot war. Denn dort stand ein musikalischer Fußgänger. Leider war er auch leicht zu erregen. Warum ich das schöne Lied so verhunze, wollte er resolut wissen. Was ich natürlich abstritt: „Ich gebe es doch nur inbrünstig wieder“, verteidigte ich mich. Er wiederum, bereits wütend: Bei meinem Singsang bleibe ja keine einzige Note heil.

Die Frau neben ihm mischte sich ein. Überhaupt gehöre es verboten, so einen Macho-Song öffentlich zu brüllen, forderte sie. Als die Ampel auf grün schaltete, entkam ich mit knapper Not – und nur deshalb, weil hinter mir ein Hupkonzert losbrach, das für den musikalischen Zeitgenossen offenbar eine noch größere Qual war als mein Gesang.

Wenn ich unter der Dusche „Hit the road, Jack“ pfeife oder „Save tonight“ trällere, kann ich nie ganz sicher sein, die Originalmelodie zu treffen. Bis vor kurzem dachte ich, das mache nichts, weil ich ja die einzige Ohrenzeugin sei. Ich und der Duschvorhang.

Weit gefehlt! Wände haben tatsächlich auch Ohren, jedenfalls bollerte es von Nachbars Seite so kräftig dagegen, dass ich vor Schreck in der Duschwanne ausrutschte und mir eine Seitenleiste blauer Flecken zuzog. „I shot the Sheriff!“, donnerte ich drohend zurück.

Es war zum Verzweifeln. Ich war am Verzweifeln.

Auffangbecken für verkannte Diven

Bis ich von der Grölgruppe erfuhr. Und das passiert dort: Jede Menge verkannte Gesanggenies dürfen aus einer Vorschlagsliste ein paar Hits und Schlager auswählen, von denen die beliebtesten gemeinsam sich selbst zu Gehör gebracht werden. Die Texte werden auf eine Riesenleinwand projiziert. Drums und Piano geben die Melodie vor, sodass das Schlimmste verhindert wird – musikalisch gesehen. Eine Art überdimensioniertes Auffangbecken also für Duschdiven und Badewannenbaritone.

Gestern traf sich die Grölgruppe in der Open-Air-Arena. Es ließ sich zu flotten Rhythmen trefflich Frust herausbrüllen, wenn einem danach war. Dabei begriff ich das raffinierte Timing der Veranstaltung: So konnten alle enttäuschten Fußballfans „I’ve got no roots“ klagen, ohne sich lächerlich zu machen.

Das musste mal raus!


Foto: Karla Letterman

Über Karla Letterman

Krimiautorin und Kolumnistin aus Lübeck. Stammt aus dem Harz und hat in Göttingen und Hamburg gelebt.
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