Hundert Jahre alte Texte kann man nicht lesen, die Sprache ist viel zu anstrengend. Dachte ich.Bis ich Meret Becker bei der Langen Nacht der Lübeck-Literatur aus dem Briefroman „Der Geldkomplex“ lesen hörte – erschienen 1916. Geschrieben hat ihn die eigenwillige Gräfin Franziska („Fanny“) zu Reventlow, die sich, wiewohl einer angesehenen Adelsfamilie entstammend, so gar nicht wie eine Tochter aus gutem Hause verhielt. Im Spiegel-Projekt „Gutenberg“ heißt es:
Schon früh leistete sie Widerstand gegen die Erziehung zur »höheren Tochter« und die gängige Sexualmoral.
(zitiert nach http://gutenberg.spiegel.de/autor/franziska-zu-reventlow-488, Stand: 15.7.2018)
Ihre vielfältigen künstlerischen Aktivitäten führten sie nach München und in die Schwabinger Bohème, ihr ruheloses Wesen auch in die Arme verschiedener Männer. Reventlow finanzierte sich teils selbst, teils erbte sie, musste aber auch den Bankrott eines ihrer Ehemänner verkraften.
Roman „Der Geldkomplex“
In ihrem Roman „Der Geldkomplex“ erzählt sie derart schnörkellos von der „Kunst, Schulden mit Charme zu ertragen“, dass er auch aus dem Mund einer sehr gegenwärtigen Schauspielerin wie Meret Becker nicht gekünstelt klingt.
Es nahm sich vielleicht nicht gerade freundschaftlich aus, daß ich so spurlos verschollen bin und auf nichts mehr antwortete (hab noch nachträglich vielen Dank für Deine verschiedenen Briefe) – aber glaube mir, es geschah zum Teil aus zarter Rücksicht. Erwarte nur ja nicht, daß die hiermit wieder eröffnete Korrespondenz von allzu erfreulichen Tatsachen handeln wird.
(zitiert nach http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-geldkomplex-1416/1, Stand: 15.7.2018)
Der gebeutelten Gräfin kamen weder Ironie noch Selbstironie abhanden:
Du hast dann manchmal behauptet, es ginge bei mir wie in den Lesebuchgeschichten, wo fromme Leute eine Kirche oder dergleichen nützliche Dinge bauen wollen, ohne jegliches Kapital, aber mit unerschütterlichem Gottvertrauen. Schon wollen sie verzweifeln, richten aber gläubig den Blick gen Himmel – sieh, da klingelt es, und ein anonymer Wohltäter schickt eine unwahrscheinliche Summe. – – –
Das war einmal – das war manches Mal –, aber eben bei jener letzten Krisis war keine Rede davon. Die Wohltäter waren ausgestorben, verschwunden, verreist, erzürnt oder nicht mehr zu haben.
(zitiert nach http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-geldkomplex-1416/1, Stand: 15.7.2018)
Eines Tages trifft sie einen von Freud beeinflussten Nervenarzt, der ihr einen „schweren Geldkomplex“ attestiert, dessen Behandlung er selbst übernehmen möchte.
Wie es weitergeht? Ich weiß es noch nicht, werde es aber bald erfahren. Denn diesen Briefroman – den kaufe ich mir! 🙂
Was ich bei der Literaturnacht noch erlebte, steht in meiner Rezension zu lesen.
Fotos: Thomas Schmitt-Schech