Eine Fabel zum Jahresbeginn
Am späten Nachmittags des ersten Januartages saßen Pfau und Graureiher nebeneinander an einem kahlen Abhang.
Der Reiher seufzte. »Ich wünschte, ich wäre ein so prachtvoller Vogel wie du! Dann hätte ich eine Chance gehabt.«
»Eine Chance? Worauf denn?«, erkundigte sich der Pfau und bewegte anmutig sein Haupt, sodass sein Kopfschmuck im verbleibenden Licht glitzerte.
»Ach – ich wäre so gern der Vogel des Jahres geworden!« Der Graureiher seufzte erneut, noch tiefer als zuvor. »Doch nominiert sind andere. Ich unscheinbarer Geselle hatte natürlich keine Aussicht auf Erfolg.«
»Aber, Bruder …« Der Pfau räusperte sich, denn er war sich nicht sicher, ob diese Anrede angemessen war. »Ich konnte mich doch noch nie mit diesem Titel schmücken.«
Der Graureiher stutzte. »Ach nein? Ich hätte darauf gewettet! Denn selbst der Haubentaucher, der nicht annähernd einen so schönen Kopfputz hat wie du, wurde bereits 2001 auserkoren.«
»Ich bitte dich, Bruder …« Der Pfau zögerte diesmal nur einen kurzen Moment, er wollte ganz sichergehen, dass der andere der Bezeichnung nicht noch widersprach, »ich bitte dich, der Haubentaucher kann doch exzellent tauchen. Er kann 45 Sekunden unter Wasser bleiben.«
So ein Winziger!, staunt der Graureiher
»Mag sein«, murrte der Graureiher. »Doch auch ein so Winziger wie der Zaunkönig findet mehr Beachtung als du und ich. Er wurde schon 2004 Vogel des Jahres.« Er schniefte theatralisch.
Der Pfau schaute seinen Sitznachbarn ungläubig an. »Ja aber … weißt du denn nicht, was für ein begnadeter Sänger der Zaunkönig ist? Man hört ihn einen halben Kilometer weit!«
Der Graureiher ließ den Kopf sinken. »Doch selbst so ein gewöhnlicher Vogel wie der Spatz wurde schon gekürt. 2002. Was hat er uns beiden denn bitte voraus?«
»Der kleine Spatz ist ein sympathischer Geselle«, sagte der Pfau. »Er macht sich viele Freunde durch seine Bescheidenheit. Er ist Vegetarier.«
»Aber trotzdem!« Der Graureiher richtete sich auf. Sein schlanker, gemusterter Hals, den er zusammengefaltet wie den Buchstaben S gehalten hatte, ragte nun weit über den Pfauenkopf hinaus. »Trotzdem, trotzdem!«
»Ja, was denn bitte, Genosse?« Der Pfau verspürte das Verlangen, sich ein wenig zu distanzieren. »Du sprichst wie ein störrisches verwöhntes Menschenkind!«
»Trotzdem hast du es mit deinem prunkvollen Federkleid viel besser als ich!«, beharrte der Reiher.
»Wie man’s nimmt.« Der Pfau wiegte den Kopf und legte eine Kunstpause ein. Er wartete, bis der Graureiher seinen Hals wieder bis auf gemeinsame Augenhöhe zurückgefaltet hatte und ihn ansah.
Ruhm hat seinen Preis
»Ich bin ein vielgerühmter Geselle, das stimmt. Doch der Ruhm hat seinen Preis.«
»Welchen denn?« Der Graureiher riss gespannt die gelben Augen auf.
»Nun, ich kann niemals in Ruhe fischen gehen, wie du. Immer beobachtet mich jemand. Oder will mich gar streicheln. Brrr!«
Der Graureiher zwinkerte.
»Wollte dir schon einmal jemand die Schwanzfedern ausreißen?«, fuhr der Pfau fort. »Mir passiert das täglich!«
Der Graureiher wandte den Blick ab.
»Und ich kann nicht einmal fliehen«, klagte der Pfau. »Während du elegant durch die Lüfte schwebst, kann ich nur versuchen, mich im nächsten Busch zu verstecken.«
Der Graureiher blickte beschämt zu Boden. »Ich glaube, ich war ein bisschen undankbar«, gab er schließlich zu.
»Ich glaube, du warst zu wenig selbstbewusst«, entgegnete der Pfau, der seinen Gesprächspartner am Jahresbeginn nicht geknickt zurücklassen wollte. »Denn du kannst so vieles! Du kannst dich leise anschleichen. Du kannst gut pirschen. Du kannst blitzschnell reagieren. Überhaupt bist du ein hervorragender Jäger. Und wenn du willst, kannst du sogar durchdringend rufen.«
Der Graureiher hatte sich unwillkürlich zu voller Größe aufgerichtet. »Dann werde ich laut rufen. Ich werde dazu aufrufen, dass der schönste Vogel der Welt endlich zum Vogel des Jahres gewählt wird! Der Pfau.« Mit diesen Worten schritt er würdevoll von dannen.
»In Ordnung«, sagte der Pfau zu sich selbst. »Denn du, Gefährte Graureiher, warst schließlich schon der Jahresvogel bei der Pilotwahl 1970 in Baden-Württemberg.«
Dass dieses Gespräch zwischen Pfau und Graureiher stattfinden konnte, liegt übrigens in meiner Häkelwut begründet.
Vogelherstellung & Foto: Karla Letterman