Wer kennt Diederich Heßling?
Der Mann ist ein Niemand. Und doch brandgefährlich. Er ist niederträchtig, egoistisch, größenwahnsinnig, (leider) redegewandt und geltungssüchtig. Er ist ein Mann, wie er (zu) häufig vorkommt, bis heute. Erschaffen wurde er vor 110 Jahren von Heinrich Mann. Er charakterisierte ihn als „Der Untertan“.
Ohne diese Art Mensch könnte kein Autokrat regieren, käme kein verurteilter Straftäter, kein Psychopath an die Macht. Dieser Mann ist nur zur einen Seite höflich, zur Seite der Macht. Auf der anderen Seite tritt, kratzt und spuckt er. Im Bestreben, seine eigene Stellung zu sichern, geht er über Leichen.
Ich habe Heinrich Manns Roman „Der Untertan“ gerade gelesen und war erschüttert ob der Aktualität der Charakterstudie. Manche Wesenszüge kamen mir so bekannt vor, dass es wehtat.
So ist da der Hang zum Protzen, der auf Wahrheit keine Rücksicht nimmt. Im Fall von Diederich Heßling äußert sich das zum Beispiel in Prahlereien über seine Zeit beim Militär. Tatsächlich hat er gedient – allerdings nur drei Monate lang, dann hat er sich gedrückt. Ein Verbindungsbruder kannte den Militärarzt, der schließlich Untauglichkeit attestiert hat. In späteren Gesprächen fällt kein Wort davon.
Der Mann ist größenwahnsinnig. Er vergleicht sich gönnerhaft mit Richard Wagner. Auch glaubt er allen Ernstes, den Kaiser schere es, dass er – Heßling – ihm nacheifert.
Niedertracht, Opportunismus und Gefühlskälte
Heßling – zunächst der schüchterne Mann aus der Provinz – bemüht sich lange um eine junge Frau aus angesehenem Elternhaus in Berlin, Agnes. Schließlich treffen sie sich, und sie schlafen miteinander. Als der Vater geschäftliche Rückschläge erleidet, zeigt sich Heßlings ganze Niedertracht. Er zieht sich zurück; Agnes‘ Familie nützt seinem Ansehen nicht mehr. Sie und schließlich ihr Vater flehen Diederich an, Agnes zu heiraten. Doch sie ist ihm längst lästig geworden. Er erklärt ihrem Vater, er könne nur eine Jungfrau ehelichen.
Falschheit, gepaart mit bedenkenlosem Opportunismus. Ein Beispiel: In der ererbten Firma hört Heßling weder auf die Ratschläge des erfahrenen Buchhalters, noch auf die des Maschinenmeisters. Mit unerträglicher Arroganz zieht er außerhalb der Firma über beide Männer her. Wenn er sie jedoch plötzlich braucht, schmeichelt er ihnen und – als das den Maschinenmeister nicht beeindruckt – erhöht sogar das Gehalt.

„Der Streik“ von Robert Koehler, 1886
Diederich Heßling ist ein feiger Waschlappen. Mutig wird er nur, wenn er eine Meute hinter sich weiß. So gibt er sich gegenüber Clemens Buck, einem geachteten ‚freisinnigen‘ Mann im Ort, zunächst als Demokrat oder zumindest „durchaus liberal“ aus. Entgegen seiner Gesinnung erklärt er sich sogar zu einer Kandidatur für die Freisinnige Partei bereit.
Als aber die Kaisertreuen die Oberhand gewinnen, gibt sich auch Heßling als ein Anhänger Wilhelms II zu erkennen. Und dann legt er gleich richtig los: Er will in seinem Wohnort ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal aufstellen lassen. Dafür bekämpft er die Planung eines Säuglingsheims, um das Denkmal finanziell zu ermöglichen.
Grundsätzlich leugnet er eigene Aussagen, die ihm nicht (mehr) passen, wenn er damit konfrontiert wird. Dann hat er es „nie so gesagt“, handelt es sich um ein Missverständnis oder um eine falsche Auslegung.
Diederich Heßling ist kalt, egoistisch, skrupellos und grausam. Seiner Ehefrau Guste kündigt er an, er werde ihr nichts vererben – obwohl sie ihr Vermögen in die Ehe eingebracht hat. Nach der schwierigen Geburt des zweiten Kindes erklärt er ihr, er hätte sie zur Not sterben lassen, um das Kind zu retten. Dabei ist er selbst entsetzlich wehleidig: Bei Bauchschmerzen kündigt er an, sein Testament zu machen; Halspinseln (eine Behandlung seines Hausarztes im Rachen) erträgt er nicht.
Worthülsen und Floskeln, die (leider) verfangen
Diederich Heßling liebt knackige Phrasen. So möchte er „dem Geschwür die Maske herrunterreißen“, „mit eisernem Besen auskehren“ und fordert ein „Bollwerk gegen die Schlammflut der Demokratie“. Er versteht sich auf Rhetorik und Polemik: das beweist er, wenn er mannhaft, deutsch und kaisertreu gleichsetzt. Gern gibt er sich auch staatsmännisch, etwa wenn er verlauten lässt: „Die Weltgeschichte lässt nicht mit sich spaßen“.
Er erfindet abenteuerliche Begründungen, die ihm ein Teil seiner Zuhörer allerdings abnimmt. Als er gegen das Säuglingsheim agitiert, erklärt er, das deutsche Volk müsse „das Laster“, aus dem uneheliche Kinder entstehen, nicht gutheißen. Die Franzosen hingegen könnten gar nicht anders, denn „durch die Folgen ihrer demokratischen Zuchtlosigkeit“ seien sie schon so gut wie augestorben. „Die mögen uneheliche Geburten preiskrönen, weil sie sonst keine Soldaten mehr haben“.
Mit Verleumdungen geht Heßling gegen seine eigene Arbeiterschaft vor. So erklärt er, wer Sozialdemokrat sei, wolle seine Fabrik anzünden. Und seine Arbeiterinnen entwendeten Lumpen für Kinderkleider. Überhaupt liebt er es geradezu, Schwächere zu schikanieren. Er schreit seine Angestellten an, prügelt verbal auf politische Gegner ein (solange sie sich in der Minderzahl befinden), wird laut gegenüber seinen Schwestern, die finanziell auf ihn angewiesen sind.
Unbeirrt von seinen eigenen verbalen Entgleisungen, behauptet Diederich Heßling im Brustton der Überzeugung: „Sachlich sein heißt deutsch sein.“ Nur, um dann effektvolle Phrasen von der „Vorfrucht des Umsturzes“ zu übernehmen. Und Gerüchte, die seinen Widersachern schaden könnten, ungeprüft weiterzuverbreiten. (Sein Jugendfreund Wolfgang Buck, mittlerweile Rechtsanwalt, sei mit einer unseriösen Berliner Schauspielerin liiert, zum Beispiel.)
Und die Moral von der Geschicht?
Diederich Heßling nutzt Gutmütigkeit aus, empfindet Schadenfreude ob des Unglücks anderer, spielt sich gern in den Vordergrund, lügt und betrügt. So weit, so schlecht.
Doch was einen derartigen Charakter – der ja auf der anderen Seite ein Jammerlappen ist und aufs Gravierendste gegen seine eigenen Männlichkeitsideale verstößt – gefährlich macht, ist, wenn andere ihm Macht einräumen – ob aus Bewunderung oder Angst. Das zeigt Heinrich Mann so beklemmend nachvollziehbar auf.
Der Roman ist (abgesehen von sprachlichen Wendungen) wieder oder immer noch aktuell. Wenn sich Geltungssucht, Egozentrik, Feigheit, Illoyalität, Rücksichtslosigkeit, Aufschneiderei und Rachsucht miteinander paaren, kann aus einem verkorksten Charakter ein übler Tyrann werden – sofern die Mitmenschen ihn lassen.
Warum nur fällt mir zu dem Thema ein Vergleich ein? Jedenfalls finde ich den Welt-Artikel „Soziopathen mit Macht“ darüber, was ein gewisser US-amerikanischer Politiker mit Wilhelm II gemeinsam hat, äußerst lesenswert!
Heinrich Mann: Der Untertan. Z.B. in der Ausgabe vom Deutschen Taschenbuch Verlag, München; 1. Auflage 1964
Zum Bild „Der Streik“: Von Robert Koehler – Deutsches Historisches Museum: info, pic, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1228330