Leseprobe aus „Jenseits der Spur“

Der Roman „Jenseits der Spur“ beginnt mit einem Knalleffekt:

Feuer nach einer ExplosionBevor das Unglück geschah, lag unbeschwerte Fröhlichkeit in der Luft.

Die Sonne vergoldete die Vorgärten im Harzstädtchen Bad Lauterberg, das durch seine Lage auf der Südseite des Mittelgebirges vom Wetter bevorzugt war. Im Stadtteil Aue, dessen Bedeutung sich aus der modern geführten Kooperativen Gesamtschule KGS und dem nicht weit davon entfernt gelegenen Polizeikommissariat ergab, wechselten kleine Blöcke der städtischen Wohnungsbaugesellschaft mit Reihen- und Einzelhäusern ab. Bunte Blüten wiegten sich wohlig in der leichten Brise, geputzte Fensterscheiben glänzten um die Wette. Die Arbeit des ersten Vormittags der Arbeitswoche war erledigt, mühelos erledigt an diesem Schönwettertag Ende Mai. Selbst die Gruppen Halbwüchsiger, die aus der KGS auf die Straße schlurften und kein Auge für Beete oder Lichtstimmung hatten, waren von der seltenen Gelassenheit dieser Mittagsstunde erfasst. Die Scherze gerieten ohne Häme, einzelne Mobbingversuche fanden einfach kein Echo.

„Ey, Türkenkind…“

Fünftklässler, deren Unterricht schon beendet war, und Zehntklässler, die beschlossen hatten, Englisch, Sport und Politik ausfallen zu lassen, liefen in außergewöhnlicher Eintracht nebeneinander her zur Bushaltestelle.
Ein Schlaks mit den ersten schüchternen Bartstoppeln inmitten des Aknefeldes wandte sich an Marvin Azizmahmutogullari: „Ey, Türkenkind, ist das nicht dein Vater, der den Dönerimbiss da vorn eröffnet hat?“

Marvin, noch unschlüssig, wie er sich gegen den zu erwartenden groben Witz wehren sollte, staunte nicht schlecht, als der Junge weiterredete: „Echt fair, der Schülerteller. Nice gemacht. Kannste ma’ ausrichten.“ Marvin genoss die anerkennenden Blicke seiner Kumpels. „Neiß gemacht, heiß gemacht, Preis gelacht!“, krähte der blonde Eagle-Eye und tanzte um Marvin herum.

Dieses Gesocks!

„Guck nur mal dies übermütige Gesocks“, raunte Hertha Ansorge und stieß ihren Friedensreich mit dem rechten Ellbogen an. Die beiden hatten sich wie üblich bei warmem Wetter zwei flache Kissen auf die Wohnzimmerfensterbank gelegt und überblickten von ihrer Wohnung in der Berliner Straße aus sowohl den Gläsnerweg, der zur Schule führte, als auch die Scharzfelder Straße, die alte Durchgangsstraße durch den Ortsteil. „Wir haben in dem Alter Kartoffeln mit der Hand aufgeklaubt. Da war keine Zeit für Tänzchen und nutzlose Ausgelassenheit.“ Ihr Mann, der gelernt hatte, dass er das Geschimpfe seiner Frau irgendwie quittieren musste, damit sie die nötige Aufmerksamkeit erfuhr und seine Tagträumerei nicht weiter störte, brummte „ja, ja, genau“ und wandte sich nach links. Diese magere Frau da im hellen Trenchcoat, kannte er die nicht? Diese abgehackten Bewegungen… wer war sie noch gleich?

Er wollte gerade Hertha befragen, die ein elefantöses Gedächtnis für merkwürdige Mitbürger hatte. Der Knall verschlug ihm die Sprache.

Marvins Freund Zbigniew, der Einfachheit halber Bingo genannt, holte Luft, um ein polnisches Wortspiel zum Thema Imbiss und Preise zum Besten zu geben. Ihm blieben die Worte im Hals stecken, als er das schauerliche Feuer sah.

Der VW Touareg schickte eine rußige Scherbenwolke gen Himmel, als er mit wütendem Getöse zerbarst.


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