Proletarier, frühmorgens

Als geborene Spätaufsteherin (gefühltes Sternzeichen: Eule) sind mir Menschen unheimlich, die ein Ereignis wie „sechs Uhr morgens“ aus eigener Anschauung kennen. Wie muss es sich anfühlen, so frage ich mich unter leichtem Gruseln, im Dunklen einen Weg hin zu Fahrrad, Auto oder Bus zu bestreiten? Pflegen da nicht, auf Opfer lauernd, Unholde im Gebüsch zu hocken?Wie halten es Frühaufsteher eigentlich mit der Körperpflege? Erzähle mir doch keiner, mitten in der. Nacht gebe es warmes Wasser! Und was ist mit Brötchen? Naja, immerhin mag der Begriff Frühstück mit der Uhrzeit zu tun haben. Unterstelle ich also, die Halbwachen sind wenigstens satt unterwegs.
Was tun nun all die ungewaschenen Schlaftrunkenen mit vollgestopftem Magen, wenn sie endlich ihr Fortbewegungsmittel unvergewaltigt und mit heiler Geldbörse erreicht haben? Summen sie erleichtert  ein Liedchen? Sind sie in der Stimmung, den Morgenstern vom Himmel zu pflücken? Schwelgen sie in Erinnerungen an romantische Nachterlebnisse? Ach nein, natürlich nicht, für jene Unglücklichen ist die Nacht zum Schlafen da, sie müssen ja früh raus…
Wer ausschlafen kann, weiß nichts vom wahren Leben, belehrten mich jüngst meine proletarisch auftretenden Freunde aus Downtown –  in der Absicht, meinen Bescheidwisserehrgeiz zu kitzeln. Frühe Morgenstund kenne keine Unbeschwertheit. Pah!, erwiderte ich gelehrt, die hat doch Gold im Mund. Basta!
Und doch: die Neugier in mir trieb ihr untergründliches Spiel. Vorletzte Nacht erwachte ich um eine Uhrzeit, die ich bis dahin nur vom Hörensagen kannte. Fünf Uhr fünfundfünfzig. Zeit für Feldforschung!, flüsterte mir mein Reporterehrgeiz ein. Tastend fand ich die Taschenlampe – nicht dass Nachbarn durch mein beleuchtetes Fenster in Alarmbereitschaft versetzt würden! Die Wassertemperatur testete ich erst gar nicht, dafür den Wärmegrad des gestrigen Spätnachmittagskaffees in der Thermoskanne, er war noch ausreichend. Schokoriegel statt Käsebrötchen, entschied ich kurzerhand. Mein Wagemut, den Schwung nutzend, erreichte nie gekannte Höhe: er ließ mich den Weg zum Bahnhof wählen. Die Forsythien, die den Pfad säumen, waren zum Glück unbelaubt, und so konnte ich sehen: sie bargen weder Messerstecher noch Säbelzahntiger.
Frohlockend erblickte ich die Menschenansammlung am Gleis. Sogleich würde ich Arbeiterluft schnuppern. Solidaritätsbekundungen. Faustrecken, ehrlich erworbener Schweißgeruch. Kantig-entschlossene Gesichter mit vom harten Brot herausgebildeter Kaumuskulatur. Bereitwillig würde ich mich vom wahren Leben faszinieren lassen!
Der Schweißgeruch stimmte schon mal. Und sonst: Smartphone-Getippe, virtuelles Daumenrecken, Gesichtsmuskeln so abgeschlafft wie die Lust zuzupacken. Dafür bin ich früh aufgestanden?!
Ich bitte Euch. Proletarier aller Länder, legt euch auch wieder hin!

Über Karla Letterman

Krimiautorin und Kolumnistin aus Lübeck. Stammt aus dem Harz und hat in Göttingen und Hamburg gelebt.
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