Lost in space tabs: Hikikomori

Verlassener Briefkasten

Der Mensch beherrscht die Technik. Jedenfalls solange, bis sie ihn beherrscht. Ausgehend von der japanischen Hochleistungsgesellschaft, breitet sich in der schönen neuen Welt das Phänomen der Hikikomori aus: Menschen leben monate- oder jahrelang abgeschieden, verlassen ihr Zimmer so gut wie nie und kommunizieren mit der Außenwelt nur über Internet-Portale. Sie sind lost in space tabs, könnte man sagen. Viele dieser Menschen haben eine Angst-Symptomatik (wer hätte es gedacht?), deren Ursachen vielfältig sein sollen. Probleme in menschlichen Beziehungen werden genannt, Mobbing, hoher Erwartungsdruck, wirtschaftliche Probleme, der Verlust von Selbstvertrauen und traumatische Erfahrungen.

Die Frage ist: Handelt es sich wirklich um voneinander unabhängige Ursachen, oder laufen sie auf einen gemeinsamen Kern hinaus? Dieser Kern ließe sich als Unmenschlichkeit der Umgebung zusammenfassen. Denn die Zurückgezogenen scheitern nicht etwa an mangelndem Fleiß, Ehrgeiz oder Intellekt. Die Fotografin Maika Elan, die Hikikomori in Japan erlebt hat, resümiert: „Ich dachte anfangs, sie wären faul, aber es sind alles sehr kluge, empathische und freundliche Leute“ (zitiert nach Spiegel online Stand: Juni 2019).

Technik für Hikikomori

Ein Mann in einem dunklen Raum

„Die im Dunkeln sieht man nicht“

Diesen ausgeschlossenen Eingeschlossenen ermöglicht die Technik einerseits, sich mit Nahrung zu versorgen, also am Leben zu bleiben. Manche ernähren sich von Fertigessen und spielen Videospiele – zu mehr Aktion fühlen sie sich nicht in der Lage. Eine „Lebens“-Weise, die es früher nicht gegeben hat, nicht hätte geben können.

Gesellschaftliche Bedingungen haben mit den technischen Veränderungen nicht Schritt gehalten. So ist der japanische Arbeitsmarkt derart starr, dass auch hoch qualifizierte Menschen durchs Raster fallen, wenn sie nicht zu 100 Prozent tun, was erwartet wird, wie eine eindrucksvolle Reportage verdeutlicht.

Eine leere BankAuch in Europa registriert man zunehmend Jugendliche, die sich – wie in Japan – jahrelang in ihrem Kinderzimmer verschanzen und von den Eltern versorgen lassen. „Sozialphobie“ hat man das bei uns getauft. Der Grund ist auch hier: Die Anforderungen an junge Leute seien durch Globalisierung und Modernisierung immens gestiegen. Dem Rückzug aus der Gesellschaft ist ein Theaterstück des Österreichers Holger Schober gewidmet.

Im Jahr 2019 haben wir Siri, Alexa und Rasenmäher-Roboter. Und wir haben Hikikomori, Jugendliche, die in ihrem Kinderzimmer altern, aber nicht erwachsen werden. Was heißt denn da Leben? Was heißt Kommunikation? Wird die nächste Stufe sein, dass wir von den Unsichtbaren nicht mehr sprechen werden?


Fotos: Karla Letterman

Über Karla Letterman

Krimiautorin und Kolumnistin aus Lübeck. Stammt aus dem Harz und hat in Göttingen und Hamburg gelebt.
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