Ergriffenheit in Zeiten der Avatare

Clown Carillon bei der LiebeserklärungNie war es so einfach wie heute, sich Vergnügen im Sinne von Ablenkung zu verschaffen. Streaming-Dienste, Playstations und Computerspiele sind für viele Menschen zugänglich und werden von vielen genutzt. Doch was bewegt User über das reine Beschäftigtsein hinaus? Wie sieht es mit ihren Gefühlen aus? Anders gefragt: Schafft man durch Shows und Videos Ergriffenheit in Zeiten der Avatare?

Eines halte ich für ausgeschlossen: dass die Unterhaltungsformate meiner Kindheit heute noch jemanden hinter dem Ofen hervorlocken würden (ich meine damit die Kaminfeuer-Animation auf dem Notebook). Galt es vor 35 Jahren als bemerkenswert, dass Hans Rosenthal in seiner Fernsehsendung Dalli Dalli „Das war Spitze!“-rufender Weise in die Luft sprang, würde man über derlei heute nur den Kopf schütteln.

Die beiden Clowns Chistirrin und Genzi im Zirkus RoncalliManch damals hochdekorierter Film ist heute schwer zugänglich, weil sich unsere Sehgewohnheiten, Schritt haltend mit den technischen Möglichkeiten, gewandelt haben.

Wir sind auf schnelle Schnitte und krasse Szenenwechsel eingestellt und werden ungeduldig, wenn ein Kommissar mit seinem Assistenten lange, bedeutungsvolle Blicke wechselt statt endlich die Tür einzutreten.

Nassspritzen und platte Finten

Mit meiner Großmutter besuchte ich Zirkusvorstellungen in der Provinz. Die Show begann stets mit einer ausufernden Selbstdarstellung des Zirkusdirektors, und die Pausenclowns waren selbst mir als Kind zu blöd. Das immergleiche sich-gegenseitig-Nassgespritze und die platten Finten, die man schon tausendmal gesehen hatte, ertrug man nur, weil… ja, warum eigentlich?
Um einen Elefanten am Ohr zu fassen? Ehrlich gesagt hat mir das nie etwas bedeutet. Um Löwen durch brennende Reifen springen zu sehen? Offen gestanden, war mir auch das egal. Was war es dann?

Die Artistin Adele Fame bei RoncalliDie Atmosphäre! Der Elefant atmete so laut wenige Meter vor einem, als wäre man im Dschungel. Die Akrobaten riskierten ihre Gesundheit, man merkte es an ihrer Anspannung. Die wunderhübschen Seiltänzerinnen in ihren glitzernden Kostümen hatten das Zeug, der reichsten Prinzessin den Rang abzulaufen. Und der Zirkusdirektor sprach mit exotischem Akzent von einer Welt – „bitt’schön, träten Sie näher, verärrtes Publikum!“ – die weit weg war von meinem Alltag – und von dem meiner Großmutter auch. (Obwohl die es immerhin kannte, als „verehrte Dame“ angeredet zu werden.)

Doch wie ist das heute? Gibt es Ergriffenheit in Zeiten der Avatare?

Ja! Das Storytelling im Zirkus Roncalli ist ein Anlass dafür (s.a. meinen Bericht in Unser-Luebeck.de!). Es ist gar nicht so einfach auszumachen, worin das Zeitgemäße der Show besteht. „Schnelle Schnitte“ – sprich Überleitungen ohne Zirkusdirektor-Geplänkel – sicherlich. Atemberaubende Artistik und beeindruckende Körperbeherrschung tragen ebenfalls ihren Teil dazu bei. Außerdem sind alle Akteure bestens dekoriert. Von den Bühnenbildschaffern über die Clowns bis zum sexy Ballett sind alle in schicke, 1A passende Kostüme gesteckt. Und dann fliegt noch Sternenstaub, und Luftballons werden freigelassen wie übermütige bunte Tauben. Das Live-Orchester patzt nie (auch ein Unterschied zu den Provinzzirkus-Auftritten meiner Kindheit!), und die Beleuchtung ist perfekt.

Bilder sorgen für Ergriffenheit

Dieser Zirkus schafft Bilder, und die Bilder schaffen Emotionen. Zirkus ist ein Unterhaltungsformat für alle Bildungsschichten, und das Schöne ist: seine Bilder verfangen auch heute noch. Sie sorgen für spontane Ergriffenheit und Begeisterung, die von Herzen kommt.

Da können die Damen und Herren Avatare ein Päuschen einlegen und ehrfürchtig zuschauen.


Fotos: Thomas Schmitt-Schech

 

Über Karla Letterman

Krimiautorin und Kolumnistin aus Lübeck. Stammt aus dem Harz und hat in Göttingen und Hamburg gelebt.
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